Wirtschaftspolitik ist eine komplexe Sache. Auch Experten müssen ihre Theorien ständig überprüfen. Eben haben drei führende Ökonomen des Weltwährungsfonds IWF die auch von der eigenen Organisation gepredigte neoliberale Doktrin in Zweifel gezogen. (hier) Insbesondere der freie Kapitalverkehr habe vermutlich mehr Nach- als Vorteile.
Doch Ungewissheiten sind schwer auszuhalten, vor allem, wenn sie eine so wichtige Sache wie die Ökonomie betreffen. Deshalb ist es gut, dass es noch Leute gibt, die genau wissen, was Sache ist. Zu diesen Wissenden gehören insbesondere viele Korrespondenten von Tageszeitungen, so auch Martina Meister, die für den TA aus Frankreich berichtet. Als solche weiss sie natürlich, was ihrem Land Realité und was Illusion ist, und dieses Wissen hat am Mittwoch unter dem Titel „Ende des Illusionstheaters“ eine Seite lang ausgebreitet.
 
Wir erfahren:
Dass Frankreich „zur Beute der Populisten wird, wenn es den sozialromantischen Sonderweg nicht verlässt“.
Dass die Arbeitsmarktreformen „im Grunde nur die Modernisierungen nachvollzieht, die heutzutage in Europa allgemeiner Standard sind“.
Dass dies „die Konkurrenzfähigkeit französischer Unternehmen verbessern, die Arbeitslosigkeit verringern und die Staatsschulden senken wird“.
Dass dies „durch die deutschen Erfahrungen mit der Agenda-Politik belegt“ wird.
Dass es jetzt „nur noch darum gerungen werde, wie tief die Schnitte gehen müssen“.
Dass die „Reformen alternativlos“ sind.
All dies, so die Korrespondentin „dämmere“ auch den Wählern allmählich. Die einzigen, die es noch nicht begriffen haben, seien die „gnadenlos populistischen Politikern, die verantwortungslos das Blaue vom Himmel versprechen“. Diesem „Unfug“ gelte es entgegenzutreten: „Die Linke hat die historische Aufgabe, die verfilzte gesellschaftliche und ökonomische Ordnung zu modernisieren.“
Worum es bei diesen Reformen genau geht, erfährt der TA-Leser nicht. Zumindest nicht auf dieser Seite.  Ende letzter Woche erschien dazu ein „erläuternder“ Kommentar – bezeichnenderweise unter dem Titel „Das Land braucht diese Reformen.“ Unter anderem steht dort: FrankreichsArbeitnehmer würden damit keineswegs von einem Tag auf den anderen rechtlos, im Gegenteil: Sie sollen per Abstimmung in den Betrieben selbst entscheiden dürfen über die Arbeitszeiten und Überstunden.“ Offenbar hat der Autor dieses Kommentars (nicht Meister) nicht begriffen, dass es bei diesem Streit eben nicht darum ging, ob, sondern auf welcher Ebene abgestimmt wird. In der Branche oder im einzelnen, gefährdeten Betrieb, wo die  Angestellten allem ja sagen (müssen), um ihren Job zu retten.
Doch zurück zum Text von Martina Meister. Alle ihre Behauptungen werden durch ein einziges Argument und durch ein Indiz gestützt. Durch die These, „dass flexiblere Arbeitsmärkte die Konkurrenzfähigkeit der Exportindustrie verbessern und damit die Arbeitslosigkeit senken werde“. Und durch die Behauptung, „dass dies durch die deutschen Erfahrungen mit der Agenda-Politik belege wird.“
Faktencheck: Von 2002 (vor der Einführung von Hartz 4) bis 2015 ist der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands von 2 auf 8,5 Prozent des BIP gestiegen und gleichzeitig die Arbeitslosenquote von 8,6 auf 4.6% gesunken. In Frankreich war es genau umgekehrt: Der Aussenhandel ging von plus 1,3% plus auf minus 1,5 BIP-Prozent und die Arbeitslosenquote stieg von 8,5 auf 10,4 Prozent.
Das scheint die von Meister weiterverbreiterte These zu bestätigen: Reformen, Wettbewerbsfähigkeit, Exportüberschüsse, weniger Arbeitslosigkeit. Doch da gibt es eine logische Inkonsistenz: Es können nicht alle Überschüsse erzielen. Des einen Defizit ist des andern Überschuss. Des andern Beschäftigung sind des einen Arbeitslose. Bei ausgeglichenen Bilanzen (und über alle Länder gesehen, sind die Bilanzen ausgeglichen) wäre Frankreichs Arbeitslosenquote rein rechnerisch sogar deutlich tiefer.
Doch Beschäftigung kommt nicht nur von den Exporten, sondern auch von der Binnennachfrage. Und die leidet, wenn man – wie Deutschland – einen Niedriglohnsektor einführt. „Dank“ den Reformen gibt es in Deutschland neben den 4,6% Arbeitslosen noch 11.9 Prozent „geringfügig Beschäftigte“ mit monatlich etwa 300 Euro Arbeitsentgelt plus Hartz-4. Damit kann man keine grossen Sprünge machen. Nicht zufällig ist deshalb Deutschlands Binnenkonsum von 2002 bis 2010 als die Reallöhne praktisch stagnierten, nicht einmal halb so schnell gestiegen wie in Frankreich, wo die Reallöhne fast um 10% zulegten. Seither entwickeln sich die Löhne in beiden Ländern in etwa gleich und Deutschlands Konsum steigt schneller.
Sobald man die Sache also etwas genauer anschaut, sieht man, dass die Sache zumindest unklar ist. Was ja auch nicht schwer nachzuvollziehen ist. Schliesslich kommt die Arbeit vom Konsum und dieser hängt überwiegend von den Löhnen, Renten und Arbeitslosengeldern ab. Kürzt man diese, ist das für die Beschäftigung nicht gerade förderlich. Es sei denn natürlich, man zählt nur die Jobs in der Exportindustrie.
 
Wie kommt es, dass derartig fragwürdige Thesen so vehement vertreten, dass Zweifler beschimpft und niedergemacht werden? Am Glauben an das eigene bessere Wissen kann es eigentlich nicht liegen. Als Frankreich-Korrespondentin muss man sich mit Terror, Innenpolitik, Naturkatastrophen und mit dem Liebesleben des Präsidenten beschäftigen. Da muss sich die Auseinandersetzung mit Wirtschaftspolitik auf die oberflächliche Lektüre des Figaro, Les Eco und Le Monde beschränken. Und dort liest man genau dies von Leuten, die auch nicht viel mehr Zeit für eine Vertiefungsstufe haben.
Doch dem Leser ist damit nicht gedient. Er wird nicht informiert, sondern indoktriniert.
 
PS. Zum Glück gibt es beim TagesAnzeiger auch noch den sehr informativen Blog „Never Mind the Markets“. Zu Frankreich steht z.B. hier etwas Intelligentes.
 

 




Schreiben sie hier Ihren kommentar zum obigen Artikel



sicherheits-code: JEXQ   hier eintippen: (unkorrekte angaben löschen den blog-text...)